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Ob wir einen schweren
Sack tragen müssen, ein stehen gebliebenes Auto schieben, beim Knall
einer Tüte einen Schreck bekommen, uns in einer Prüfung konzentrieren
– immer reagiert der ganz Körper mit. Jeder weiß aus eigener
Erfahrung, dass dann das Herz spürbar zu klopfen, mitunter sogar zu
„rasen“ scheint. Was manchen nervös machen kann (das deutliche
Pochen in der Brust), ist jedoch eine ganz normale
„Anpassungsreaktion“ und Zeichen von Gesundheit. Krank ist man erst
dann, wenn sich das Herz nicht mehr „flexibel“ äußeren oder
inneren Belastungen (sprich: „Stress“) anpassen kann (Wenn das Herz
beim Treppensteigen nicht ausreichend pumpt oder in entspannten
Situationen unaufhaltsam rast, dann stimmt etwas nicht mehr).
Bei gesunden
(anpassungsfähigen) Menschen arbeitet das Herz wie ein
High-Tech-Instrument mit doppelter Funktion: Während es supersensibel
und ununterbrochen äußere und innere Signale registriert, reagiert es
gleichzeitig und unmittelbar auf die „Messergebnisse“ mit fein
abgestimmten Veränderungen („Variationen“) der Herzschlagfolge.
Dieses Phänomen nennt man „Herzratenvariabilität“, abgekürzt „HRV“.
Manche sprechen auch von „Herzfrequenzvariabilität“. Um dem
internationalen Sprachgebrauch („heart rate variability“) Rechnung
zu tragen und sprachliches Durcheinander zu vermeiden, wird hier die
Bezeichnung Herzratenvariabilität bevorzugt. Die HRV beschreibt also
die Fähigkeit des Herzens, den zeitlichen Abstand von einem Herzschlag
zum nächsten laufend (belastungsabhängig) zu verändern und sich so
flexibel und rasant ständig wechselnden Herausforderungen anzupassen.
Damit ist sie ein Maß für die allgemeine Anpassungsfähigkeit
(„Globalfitness“) eines Organismus an innere und äußere Reize.
Wem dies noch zu
abstrakt klingt, dem ermöglicht vielleicht das folgende Bild aus der Technik
eine gewisse Vorstellung: Das Herz ähnelt in seiner
Leistungsfähigkeit einem Auto mit vielen „Gängen“. Je nach
Verkehrssituation (Beschleunigen bei einem Überholmanöver, Abbremsen
in einer gefährlichen Kurve oder wenn sich der Abstand zum Vordermann
verringert) kann das Auto durch Tritt auf das Gas- bzw. Bremspedal
beschleunigt oder verlangsamt werden. Wie gut so etwas gelingt, hängt
nicht zuletzt von der Zahl der zur Verfügung stehenden „Gänge“
(Zahnradübersetzungen) ab. Ein Fahrzeug, das nur über die beiden
mittleren Gänge (zwei und drei) verfügt, hat weitaus weniger
„Variabilität“ in seinen Fahreigenschaften als eines mit vier oder
mehr Gängen: Es wird sowohl bei steilen Bergtouren als auch beim
schnellen Fahren in der Ebene erhebliche Schwierigkeiten haben.
Ähnlich ist es beim
Herzen, wenn dessen HRV eingeschränkt ist. Menschen mit eingeschränkter
HRV funktionieren deshalb nur in einem engen Bereich und werden durch größere
„Lebensschwankungen“ rasch überfordert. Sie erleben dies als
„Stress“, also als Missverhältnis zwischen momentanen Anforderungen
(„Störsignalen“) einerseits und den zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten
andererseits.
Menschen, bei denen
dies nicht so gut funktioniert, deren HRV also eingeschränkt ist,
entwickeln in einem deutlich höheren Prozentsatz über kurz oder lang
gravierende Gesundheitsstörungen wie Herzkrankheiten, Depressionen,
Neuropathien (Nervenentzündungen), Krebs. Eine ausreichend große HRV
scheint also ein Hinweis auf Gesundheit zu sein (insbesondere auf die
derzeitige Fähigkeit eines Organismus, angemessen auf dauernd
wechselnde innere und äußere Belastungen reagieren zu können). Nach
Michael Mück-Weymann ist sie möglicherweise ein „Globalindikator
für Schwingungsfähigkeit (Resonanzfähigkeit) und Adaptivität
bio-psycho-sozialer Funktionskreise im Austausch zwischen Organismus und
Umwelt.“ Nach diesem Konzept würde die HRV wie ein „Puffer“
(„Interface“) wirken, der dem Organismus vielfältige Interaktionen
mit der inneren und äußeren Umwelt erleichtert (oder in der
Techniksprache: Reibungsverluste verringert). Besserungen bei den oben
genannten Erkrankungen gehen meist mit Verbesserungen der HRV einher.
Interessanterweise sind rein psychotherapeutische Behandlungen in der
Lage, die HRV ähnlich gut wie Medikamente zu beeinflussen. Dies überrascht
insofern nicht, als die meisten Psychotherapiemethoden darauf abzielen,
die Anpassungsfähigkeit von Patienten an innere und äußere
Belastungen zu verbessern, indem sie den Patienten mehr Wahlmöglichkeiten
eröffnen (zu denken, zu handeln, zu erleben) eröffnen. Selbstverständlich
verbessert auch (Ausdauer)Sport die HRV.
Exkurs
zur Klarstellung:
„Anpassungsfähigkeit“ hat nichts mit „Willenlosigkeit“,
„Schleimerei“, „Duckmäusertum“ usw. zu tun. Unser Körper
„passt“ sich ständig an (z.B. an Hitze und Kälte,
Tag-Nachtrhythmen und vieles mehr), sonst könnten wir nicht überleben.
„Anpassung“ kann in zwei Richtungen erfolgen: Wenn man versucht,
andere oder anderes sich gleich zu machen, spricht man von
„Assimilieren“. Wenn man sich selbst anderen oder anderem anpasst,
nennt man dies Adaptieren. Menschen, die über beide Fähigkeiten verfügen,
sind vermutlich am erfolgreichsten. Wer nur assimiliert, erscheint
anderen leicht als „Diktator“ oder „stur“, wer sich nur
adaptiert, wirkt schnell „profillos“ und „ohne Charakter“.
"Variabilität"
ist nicht nur eine Eigenschaft des
Herzens, sondern ein Lebensprinzip schlechthin. So findet man
beispielsweise bei depressiven Menschen nicht nur eine eingeschränkte
HRV, auch die Stimmfunktionen dieser Personen sind weniger variabel, wie
neuere Untersuchungen zeigen.
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